Unsere Advocacyarbeit in Europa: So setzen wir uns für nachhaltige Lieferketten ein

Die Vertretung von Interessen benachteiligter Gruppen gegenüber der europäischen Politik ist für Solidaridad ein eher neuer Schwerpunktbereich, der jedoch durch das RECLAIM Sustainability!-Programm deutlich an Priorität dazugewonnen hat. Gert van der Bijl und Catarina Vieira*, (ehemalige) EU-Policy Advisors bei Solidaridad Europa, skizzieren den Weg, den Solidaridad in der EU-Politikarena bisher eingeschlagen hat.

Zwei Frauen stehen vor bunter Graffiti-Wand

Dieser Artikel von Marc Broere (im Original auf niederländisch) wurde ursprünglich in der Sonderausgabe “Power of Voices” der Zeitschrift Vice Versa im Juni 2024 veröffentlicht.** 

* Catarina Vieira ist eine ehemalige Mitarbeiterin von Solidaridad (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels) [seit Juli 2024 ist sie MdEP].

Europäische Politik gestalten und gesellschaftliche Unterstützung mobilisieren

Vor langer Zeit begann Solidaridad’s Einsatz gegen die Ungerechtigkeiten in globalen Lieferketten mit der Begründung des fairen Handels und der ersten Zertifizierung für fair gehandelten Kaffee. Mit der Zeit fokussierte sich Solidaridad zunehmend auf die Umgestaltung der Märkte durch Zertifizierungsinitiativen und die Zusammenarbeit mit kleinen und großen Unternehmen. Doch auch das reichte nicht aus. „Wir erkannten mehr und mehr“, sagt van der Bijl, „dass man, um die Märkte zu verändern, auch die Politik beeinflussen muss.”

Als Solidaridad erkannte, wie wichtig die Einflussnahme auf Unternehmen und die Gesetzgebung ist, wurde die Advocacyarbeit auf EU-Ebene zu einer klaren Priorität für Solidaridad. “Wir gehen dabei der Frage nach, wie die europäische Politik dazu beitragen kann, die Vision von Solidaridad zu verwirklichen: eine Welt, in der sowohl die Umwelt geschützt wird als auch die Kleinbäur*innen eine Zukunft haben“, sagt Vieira.

Die europäische Advocacyarbeit von Solidaridad konzentriert sich besonders auf zwei Gesetzgebungen: die Richtlinie zu unternehmerischen Sorgfaltspflichten (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD), die Anforderungen an Unternehmen in Bezug auf Menschenrechte und Umwelt festlegt, und die Europäische Verordnung zu entwaldungsfreien Lieferketten (European Deforestation Regulation, EUDR), die besagt, dass in die EU importiertes Rindfleisch, Leder, Kakao, Kaffee, Palmöl, Gummi, Soja und Holz „entwaldungsfrei“ sein müssen.

Die Unterstützung durch die Öffentlichkeit und die Bevölkerung ist ein wichtiger Schlüssel zur erfolgreichen Advocacyarbeit. Daher beteiligt sich Solidaridad aktiv an Kampagnen für nachhaltigere und inklusivere Politik und Lieferketten. Ein anschauliches Beispiel ist die Kampagne „Gute Kleidung, faire Löhne“ (2022-2023), eine EU-weite Initiative, die in Zusammenarbeit mit mehreren Partnerorganisationen für faire Löhne in der Textilindustrie durchgeführt wurde.

Austausch über die europäische Gesetzgebung zur nachhaltigen Kakaoproduktion: Heidi Hautala, Mitglied des Europäischen Parlaments (links) und Kpomin Edi, Vorsitzende der Frauenkooperation der Kakaobäuer*innen in Côte d’Ivoire.

Die Perspektive der Kleinbäuer*innen priorisieren

Auch wenn Solidaridad nicht die einzige zivilgesellschaftliche Organisation ist, die sich für nachhaltige Lieferketten einsetzt, so ist sie doch eine der wenigen, die sich so ausdrücklich auf Kleinbäuer*innen konzentriert, so Vieira: „Bis vor kurzem wurden die Kleinbäuer*innen in Brüssel nicht als eine Gruppe mit eigenen Bedürfnissen gesehen und waren auch nicht in sensiblen Diskussionen wie zum Beispiel der über die Entwaldungsverordnung vertreten.”

Doch gerade im Rahmen dieser Debatte musste Vieira feststellen, wie dringend diese Repräsentation benötigt wird. Auf der einen Seite erhoben viele NGOs ihre Stimme, die sich dafür einsetzten, die Abholzung zu stoppen. Ihnen gegenüber standen Unternehmen, die versuchten, die Maßnahmen abzuschwächen. Was fehlte war eine Organisation, die das Problem aus der Perspektive der Kleinbäuer*innen im Süden betrachtete.

“Wenn man eine wirklich nachhaltige Lösung will, ist es notwendig, die Kleinbäuer*innen in die Diskussion miteinzubeziehen – zum einen, weil sie praktisches Wissen über den Schutz der Natur haben, und zum anderen, um zu verhindern, dass sie am Ende die Hauptlast einer strengeren Gesetzgebung tragen müssen.”

Catarina Vieira, (ehemalige) EU-Policy Advisors bei Solidaridad Europa
Im Januar 2023 teilten fünf Vertreter*innen von Kleinbäuer*innen aus der ganzen Welt auf einer von Solidaridad mitorganisierten Sondersitzung im Europäischen Parlament in Brüssel ihre Erfahrungen und Perspektiven zur CSDDD.

Interessen der Kleinbäuer*innen bei der Gesetzgebung mitdenken

Vieira zufolge ist es für Kleinbäuer*innen oft schwierig, die gesetzlichen administrativen Vorschriften zu erfüllen, während größere Erzeuger*innen und Plantagen oft leichter nachweisen können, dass sie die (strengeren) Vorschriften einhalten.

Nach zweieinhalb Jahren Advocacyarbeit (Stand Juli 2023, als dieses Interview stattfand) sind van der Bijl und Vieira zufrieden mit dem bisher Erreichten. Dies mag darauf hindeuten, dass Solidaridads Anliegen in den politischen Kreisen, die an beiden Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind, „angekommen“ sind. Auch der (ehemalige) Europaabgeordnete Christophe Hansen, Berichterstatter für die Entwaldungsgesetzgebung, hat das Thema auf dem Schirm.

Laut van der Bijl weist Hansen immer wieder auf die Auswirkungen der europäischen Politik auf Kleinbäuer*innen in außereuropäischen Erzeugerländern hin. “Er selbst stammt aus einer luxemburgischen Familie von Kleinbäuer*innen. In seiner besonderen Funktion als Berichterstatter ist er nach Westafrika gereist und hat dort Bäuer*innen getroffen – die Realität vor Ort zu sehen hilft, die Herausforderungen für Kleinbäuer*innen zu erkennen.”

Im November 2021 organisierte Solidaridad am Black Friday eine besondere Protestaktion, um auf die prekäre Lage der Textilarbeiter*innen aufmerksam zu machen und die Dringlichkeit einer umfassenden Gesetzgebung zu betonen, die die Bedürfnisse der Herstellenden und die Verantwortung der Textilunternehmen in den Vordergrund stellt.

Die Dynamik der zivilgesellschaftlichen Advocacyarbeit im Europäischen Parlament

Die meisten Partnerschaften des Power of Voices Programm befassen sich mit Advocacyarbeit und Interessenvertretung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Nicht so bei Solidaridad – Vieira und van der Bijl bieten hier einige Einblicke und Überlegungen zu den Prozessen der Einflussnahme durch zivilgesellschaftliche Akteur*innen auf die europäische Politik an.

Vieira erklärt: „In Europa hat man den zivilgesellschaftlichen Raum, als NGO zu agieren und seine Ansichten offen mitzuteilen – das ist bereits ein Vorteil, denn in vielen Ländern außerhalb Europas ist dies nicht selbstverständlich. Außerdem bin ich der Meinung, dass das Europäische Parlament der zivilgesellschaftlichen Lobbyarbeit gegenüber sehr aufgeschlossen ist, obwohl es den Ruf hat, intransparent und kompliziert zu sein. Tatsächlich ist das Europäische Parlament  durchaus kompliziert, aber sicher nicht intransparent.”

“Im Grunde geht es bei dieser Arbeit stets darum, sich die richtigen Unterlagen zu beschaffen, zu wissen, welche Person wofür zuständig ist und wie der Gesetzgebungsprozess abläuft. Sodass man dann mit den Parlamentarier*innen aus allen Mitgliedsstaaten in einen offenen Austausch gehen kann. Diejenigen, die die Politik machen, und diejenigen, die sie beeinflussen wollen, sind in ständigem Kontakt. Es gibt wirklich viele Spezialist*innen , die mit ihren Teams an unseren Dossiers arbeiten und gerne ihr Wissen weitergeben – und auch uns nach unserer Meinung fragen. In vielen anderen Gesetzgebungsorganen auf der ganzen Welt wäre diese Art des Dialogs mit dem Parlament eine weitaus größere Herausforderung.”

Van der Bijl: „Das Europäische Parlament ist aufgeschlossen für Perspektiven und Stimmen, wenn diese auf Wissen basieren und die Entscheidungsträger*innen das Gefühl haben, die Informationen sind von Bedeutung – das Parlament ist nicht so sehr an den Schlagzeilen von gestern und morgen interessiert. Besonders für eine Organisation mit dem Ziel, den Kleinbäuer*innen eine Stimme zu geben und ihre Interessen zu vertreten, ist das Europäische Parlament leichter zu beeinflussen als die meisten Parlamente der jeweiligen EU-Mitgliedsstaaten und anderer Länder.”

Die „Signawall“ von Solidaridad Deutschland während der Berliner Fashion Week im Juli 2023, als Teil der Initiative „Gute Kleidung, faire Löhne“.

“Wir arbeiten nun beide seit einigen Jahren in der europäischen Politik, und meine Wertschätzung für die Menschen und für die europäische Politik ist stark gestiegen. Ich bewundere viele Menschen im Parlament, die wirklich gut informiert sind und sich dafür interessieren, welche Folgen ihre Vorschläge haben”, so van der Bijl.

Vieira nickt. “Es wäre schön, wenn dieses Vertrauen in Europa auch bei den europäischen Bürger*innen ankäme. Deshalb informieren wir die Öffentlichkeit über unsere Arbeit und geben der Bevölkerung die Möglichkeit, sich in Brüssel Gehör zu verschaffen.”

Power of Voices special

** Dieses Interview und die Fotoreportage wurden ursprünglich auf Niederländisch in Vice Versa’s Sonderausgabe “Power of Voices” veröffentlicht. Bei  „Power of Voices“ handelt es sich um ein Förderinstrument und Programm der niederländischen Regierung, das sich auf die Stärkung zivilgesellschaftlicher Organisationen und deren Beitrag zu einer integrativen und nachhaltigen Gesellschaft konzentriert. Die Sonderausgabe stellt verschiedene Partnerschaften im Rahmen des Power of Voices Programmes vor, wie z.B. RECLAIM Sustainability!.

Du möchtest über RECLAIM Sustainability! und die Geschichten, die im Power of Voices Special vorgestellt wurden, lesen? Entdecke die Geschichte von Faustina Aberor, Kakaobäuerin und Präsidentin einer Frauenkooperative in Ghana, und bleib dran für einen weiteren Bericht aus Honduras!