Nachhaltig von Kopf bis Fuß: Wie kann die Transformation des Textilsektors gelingen?

Eine komplett nachhaltige Wertschöpfungskette in nur einem Land? „Bottom Up!“ will das verwirklichen.

 

Globale Lieferketten sind für Konsument*innen oft nur schwer zu durchschauen – insbesondere im Textilbereich. Schon die Herstellung eines einzelnen T-Shirts ist häufig zu verworren, zu kleinschrittig, um sie beim Kauf im Geschäft noch nachvollziehen zu können. Doch was wäre, wenn alle Produktionsschritte in einem Land ausgeführt werden könnten? Kann mit dem Aufbau einer solchen Lieferkette Nachhaltigkeit vom Feld bis in den Kleiderschrank Wirklichkeit werden?

Made in …?

Blickt man in Deutschland auf das Etikett von Lieblingspullover, -hose oder -oberteil, findet man Bangladesch, China oder die Türkei als häufige Herkunftsländer dieser Kleidungsstücke. Ein Land, das immer mehr Interesse als Produktionsland auf sich zieht und damit auch ausländische Investitionen, ist Äthiopien. Um Käufer*innen und Investor*innen anzuziehen, schafft die Regierung Äthiopiens Textilparks wie den Hawassa Industrial Park, denn die Textilindustrie ist aktuell der zweitwichtigste Wachstumssektor des Landes. Er bietet die Chance, neue Arbeitsplätze zu schaffen und den landwirtschaftlich geprägten Arbeitsmarkt weiter in Richtung Industrialisierung sowie Exportgüterproduktion zu verschieben.

Allerdings sind die Markenunternehmen gegenüber Äthiopien aus verschiedenen Gründen weiterhin zurückhaltend, u. a. wegen der anhaltenden Pandemie und des andauernden Konflikts. Diese Herausforderungen hemmen das prognostizierte Wachstum der Textilbranche und behindern besonders auch die Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit. Darüber hinaus sind Negativschlagzeilen über die Produktions- und Arbeitsbedingungen der Textilindustrie noch immer keine Seltenheit. Auch für Äthiopiens Textilsektor gilt bisher: die Löhne sind so niedrig, dass sie den Arbeiter*innen keine ausreichende Existenzgrundlage ermöglichen . Berichten zu Folge werden oft nicht einmal 20 Cent pro Stunde bezahlt, und damit drei- bis viermal weniger als in Bangladesch. Die Arbeitsbedingungen können unsicher, gesundheitsschädigend und insbesondere für Frauen durch die Unvereinbarkeit von Familie und Arbeit prekär sein. Dennoch ziehen Menschen weiterhin vom Land in die Stadt, um Arbeit in einer der Textilfabriken zu finden. Auch die Umwelt leidet unter der Textilindustrie. Abwässer sind mit Chemikalien belastet, Energie und Wasser werden verschwendet, das Klima durch die intensive Nutzung der Ressourcen negativ beeinflusst. Hinzu kommt, dass viele der notwendigen Materialien und Inputs bisher aus Asien importiert werden, da eine funktionierende, lokale Lieferkette fehlt. So verbleibt nur ein geringer Teil der tatsächlichen Wertschöpfung im Land und bei seinen rund 112 Millionen Einwohner*innen.

Gemeinsam Nachhaltigkeit zum Standard machen

Dabei bietet sich in Äthiopien die Möglichkeit, eine vollständige Wertschöpfungskette vom Baumwollanbau bis zum textilen Endprodukt zu schaffen, bevor die fertigen Waren in alle Welt exportiert werden. Dieses Momentum möchte das Bottom UP!-Projekt für positive Veränderung nutzen und Nachhaltigkeit von Beginn an als Standard in die neu aufgebauten Lieferketten integrieren.

Seit 2019 arbeitet Solidaridad daher gemeinsam mit der Danish Ethical Trading Initiative (DIEH) und CSR Netherlands/ MVO Nederland, sowie mit Unterstützung der Äthiopischen Regierung, am Aufbau einer nachhaltigen, inklusiven und transparenten Wertschöpfungskette in der Baumwoll- und Textilindustrie Äthiopiens.

Farmers First!

Mangelnder Zugang zu Verbesserungen der technischen Fähigkeiten und Qualifikationsdefizite sind ein Schlüsselfaktor dafür, dass Äthiopiens Baumwoll- und Textilbranche ihr volles Potenzial nicht entfalten kann. Am Beginn der Lieferkette setzt Bottom UP! daher auf Schulungen zu nachhaltigen Praktiken für Baumwollfarmer und- farmerinnen, sowie technische Unterstützung, um diese einzuführen. Auch Entkörnungsbetriebe und Fabriken werden so unterstützt. Inhaltlich thematisieren die Schulungen beispielsweise für den Baumwollanbau relevante Themen wie Fruchtfolgen, den Umgang mit Ernterückständen, Boden- und Wasserschutz sowie Möglichkeiten zur Maximierung der Faserqualität. Im Jahr 2020 erlernten 823 Teilnehmende ebenfalls Methoden der nachhaltigen Unkrautbekämpfung und biologische Schädlingsbekämpfungsmethoden. Außerdem erhalten Landwirt*innen Zugang zu verbessertem Saatgut sowie Techniken zum Integrierten Pflanzenschutz wie z. B. Molasse-Fallen und die Nutzung von biologischen Pflanzenschutzmitteln, und werden so dabei unterstützt, ihre Erträge nachhaltig zu steigern.

Mit dem neu erworbenen Wissen und der bereits vorhandenen Erfahrung konnten bereits Produktivität und Qualität gesteigert werden. Damit verbesserte sich auch das Einkommen der Farmer*innen und ihrer Familien; dies kam auch ihrer Gesundheitssituation zugute. Auch negative Auswirkungen auf die Umwelt konnten verringert werden. Am Ende des Jahres 2020 wurden schon 3.466 ha landwirtschaftliche Fläche inklusive Ökosystemen nachhaltig bewirtschaftet.

Neben ökologischen Aspekten sollen auch die Arbeitsbedingungen in den Betrieben und Fabriken durch Aktivitäten von Bottom Up! verbessert werden. Zu diesen zählen Lehrgänge zu Arbeitsschutz und Erste-Hilfe-Grundlagen. Inklusion und Gleichberechtigung sind von besonderer Bedeutung, denn mehr als die Hälfte der 19.200 Beschäftigten in Äthiopiens Textilindustrie ist weiblich.

Die ohnehin nicht besonders guten Arbeitsbedingungen sind für Frauen noch einmal deutlich schlechter. Aufstiegsmöglichkeiten – und damit die Aussicht auf bessere Bezahlung –  gibt es für sie kaum. Im Rahmen von Bottom UP! werden Mitarbeiter*innen und Führungskräfte daher zu sozialen Themen geschult. Welche Veränderung dies bewirkt? Achamachelesh, der Vorarbeiter aus der Bekleidungsfabrik Telaje in Äthiopien, sagt dazu:

Dank des Trainings von Solidaridad weiß ich jetzt, dass Männer und Frauen das Recht auf gleiche Chancen und den gleichen Lohn haben

Achamachelesh, Vorarbeiter aus Äthiopien

In den äthiopischen Fabriken ist geplant, IT-Systeme zur Leistungsmessung und der Steigerung der Transparenz zu diesen Informationen und Kriterien einzuführen.

Voneinander lernen, miteinander lernen

Was hat funktioniert? Was nicht? Für die bestmögliche Entwicklung einer nachhaltigen Baumwoll- und Textillieferkette fördert Bottom UP! den Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen allen Beteiligten. So werden Workshops mit den Fabriken organisiert, aber auch auf nationaler Ebene mit Interessengruppen, um sich über bewährte Praktiken auszutauschen. Diese sollen dazu beitragen, einen Produktionsstandard für nachhaltige Baumwolle einzuführen, und werden von bedeutenden Regierungsinstitutionen unterstützt. Dazu besuchten Mitarbeitende aus zwei Baumwollspinnereien des Kombolcha Industrial Parks die TBE-Chinese Suit Bekleidungsfabrik. Sie gilt als gutes Beispiel für einen effizienten, produktiven und umweltfreundlichen Betrieb. Durch die Schulungen vor Ort, berichten äthiopische Partner*innen, hätten sie wichtige Kenntnisse über soziale und ökologische Nachhaltigkeit erworben. Die Begeisterung der Bottom UP!-Teilnehmenden war groß; das Projektteam wurde aufgefordert, ähnliche Unterstützung auf andere Textilfabriken und Farmen auszuweiten.

Von Afrika bis Europa verwoben

Schockierend ist, dass drei Viertel der weltweiten, nachhaltig produzierten Baumwolle immer noch als konventionelle Baumwolle verkauft wird. Bauernverbände müssen den Großteil ihrer nachhaltigeren Produktion aufgrund mangelnder Nachfrage als konventionelle Baumwolle verkaufen. Wenn die Modemarken ihre Verantwortung ernst nehmen würden, wäre dies kein Problem.

Isabelle Roger, Leiterin des globalen Baumwoll-Programms bei Solidaridad, über die Lage im Baumwollsektor

Dies ist auch für Äthiopien relevant, und zeigt, wie wichtig ein dynamischer Austausch ist – nicht nur auf Landesebene, sondern besonders auch entlang der Lieferkette. Die Verbindungen zwischen dem äthiopischen und europäischen Markt sind essentiell, nur so kann die nachhaltige Baumwolle, zum Textil weiterverarbeitet, auch unsere Geschäfte erreichen. Von Bottom UP! organisierte Matchmaking-Sitzungen bringen lokale Textilfabriken und internationale Einkäufer*innen zusammen. Zu Beginn werden außerdem potenzielle Lieferant*innen erfasst und Unternehmensprofile für Textil- und Bekleidungsfabriken erstellt, um deren Sichtbarkeit zu stärken.  Diese Profile konnten den Projektpartner*innen und Unternehmen ebenfalls für Marketing- und Kampagnenzwecke auf dem europäischen Markt zur Verfügung gestellt werden. Um die Einführung nachhaltiger Baumwolle in der Textilverarbeitung zu stärken, möchte Bottom UP! außerdem Verkaufsverträge mit Fabriken unterstützen.

Dem Ruf folgen

Am Ende jeder Lieferkette steht ein Absatzmarkt. Bei Bottom UP! sind dabei vor allem europäische Einzelhändler im Fokus. Nachhaltigkeit ist auch in der Mode heutzutage nicht mehr wegzudenken. Doch obwohl die Rufe nach fairen und umweltschonenden Produkten von Verbraucher*innen immer lauter werden, sind viele Labels, Zertifizierungen und Versprechungen dabei noch immer irreführend. Für mehr Transparenz und Aufklärung über die Lage in der Textilindustrie gibt Bottom UP! Verbraucher*Innen mittels interaktiven Verbraucher- sowie Medienkampagnen wichtige Informationen zur Hand und regt so zu einem bewussten Kaufverhalten an.

Eine Ausnahmesituation für alle

Nicht immer läuft alles wie geplant. Zu Beginn des Programms sahen sich Äthiopien und seine Einwohner*innen mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert – der anhaltende Konflikt und die Covid-19-Pandemie, aber auch Überschwemmungen zählten dazu. Diese beeinflussten ebenfalls das Bottom UP!-Projekt.Die Fortführung der Initiative und Anpassung der Maßnahmen an die Situation ist daher umso wichtiger, um eine positive Veränderungen für die zahlreichen Beschäftigten des Baumwoll- und Textilsektors in Äthiopien zu bewirken. 

Geschlossene Geschäfte, stornierte Bestellungen und Lockdown. Sowohl in Europa als auch Äthiopien hat die Pandemie die Arbeit der Initiative geprägt. Das Bewusstsein für Covid-19 wurde gefördert, Schulungen fanden von Haus-zu-Haus statt. Mitarbeitende erhielten Gesichtsmasken sowie Zugang zu Seife und Desinfektionsmitteln. In Europa wurden Konferenzen, Veranstaltungen und Dienstreisen abgesagt oder fanden ausschließlich online statt – wie zum Beispiel  ein Info-Webinar des deutsch-dänischen Einkaufunternehmens Scan Thor, im September 2020. Dieses tauschte sich mit Teilnehmenden über Erfahrungen, Herausforderungen und bewährte Verfahren im Hinblick auf Äthiopiens Textilindustrie aus.

Als Folge des Konflikts in der Tigray-Region musste Bottom UP! die Unterstützung für einige der Partner*innen in der Region einstellen. Die Sicherheit aller Beteiligten hat unter diesen Umständen immer die höchste Priorität. Um sicherzustellen, dass Bottom UP! weiterhin so viele Fabriken in Äthiopien wie möglich unterstützt, haben wir unseren Arbeitsfokus auf die Gegend von Addis Abeba und anderen Regionen des Landes verlagert.

Doch wie sieht die Zukunft aus?

Trotz aller Hürden arbeitet Bottom-Up! weiterhin aktiv an der Verwirklichung einer nachhaltigen Baumwoll- und Textillieferkette zwischen Europa und Äthiopien. Ganz konkret haben sich seit Beginn des von der EU geförderten Programms die Arbeitsbedingungen für rund 19.200 Mitarbeiter*innen verbessert und die Beschäftigung in den beteiligten Fabriken ist um acht Prozent gestiegen. Dank einem verbesserten Managements konnte auch die Produktion durchschnittlich um zehn Prozent gesteigert werden. Mit Blick auf die Umwelt gibt es ebenfalls positive Veränderungen. Bereits zwei Fabriken nutzen erneuerbare Energien, andere verbrauchen weniger Wasser und Energie bzw. achten mehr auf das Management ihrer chemischen Abfälle.

Über Bottom UP!

Das Projekt wird mit Mitteln der Europäischen Union und einer Kofinanzierung durch das niederländische Außenministerium finanziert.  Am Programm sind 14 äthiopische Baumwollfarmen, Spinnereien und Textilfabriken mit insgesamt 19.200 Arbeiter*innen beteiligt. Nachhaltigkeit steht dabei vom Baumwollfeld bis zum Kleidungsstück an erster Stelle, mit dem Ziel inklusives Wachstum, einen bewussten Umgang mit Ressourcen, verbesserte Arbeitsbedingungen und Umweltstandards in Äthiopien zu erreichen. Darüber hinaus möchte Bottom UP! für mehr Transparenz in Europa 175 EU-Unternehmen aktivieren und 1,2 Millionen Verbraucher*innen in den Niederlanden, Dänemark sowie Deutschland bei verantwortungsbewussten Kaufentscheidungen unterstützen.

Bottom UP! ist ein von der EU finanziertes Projekt, das zu einer nachhaltigen, integrativen und transparenten Wertschöpfungskette beitragen soll – und so die Arbeitsbedingungen vor Ort verbessert sowie die Arbeits- und Umweltstandards in der äthiopischen Baumwoll- und Bekleidungsindustrie fördert.

Projektpartner: Solidaridad Network, MVO Netherland und Ethical Trade Denmark (bisher bekannt als Danish Ethical Trading Initiative (DIEH)).