#Girlboss in Äthiopien: Die Rolle der Frauen in der Bekleidungsindustrie

Die Modeindustrie ist eine Hochburg der Frauen – etwa 80 % der Textilarbeiterinnen weltweit sind weiblich. Diese Frauen sind besonders häufig mit Diskriminierung, unsicheren Arbeitsverhältnissen und niedriger Bezahlung konfrontiert. In die Managementebene schaffen es die wenigsten, dort sitzen immer noch mehrheitlich Männer. Lässt sich daran etwas ändern? Unsere Kollegin und Kampagnenleiterin Heleen Blesgraaf hat Textilfabriken in Äthiopien besucht, auf der Suche nach den Chefinnen der äthiopischen Modeindustrie.


“Warum arbeiten in dieser Fabrik so viele Frauen?” frage ich den Fabrikleiter mir gegenüber mit ernstem Gesicht. Wir sitzen im Wartebereich der Etur-Fabrik in Adama, eine Stunde von Addis Abeba entfernt.

Er antwortet mit einem Lächeln: “Frauen arbeiten viel härter als Männer. Und sie sind viel geduldiger.”

Ich kann mir nicht verkneifen zu sagen: “Ach ja? Ich bin überhaupt nicht geduldig.”

Die Männer mir gegenüber nicken zustimmend. “Die Frauen hier, in Äthiopien.” Und einer von ihnen fügt hinzu: “Frauen haben auch kleinere Finger, was zum Beispiel beim Sticken und Nähen nützlich ist.”

Weibliche Führungskräfte in der Textilindustrie

Bei meinem Rundgang durch die Textilfabriken besichtigen wir die verschiedenen Abteilungen der Fabrik. Ich sehe zum Beispiel die Entkörnungsabteilung, in der die Baumwollfaser vom Baumwollsamen getrennt wird. Und die Abteilung, in der die Stoffe gefärbt werden. Ich gehe zwischen den beeindruckenden Maschinen hindurch, sehe riesige Mengen an Baumwolle und viele Mitarbeiter*innen, die ungestört arbeiten.

Jede Abteilung hat ihren eigene*n Manager*in, meist ist es ein Mann. Ein Verhältnis, welches ich auch aus den Niederlanden kenne, wo nur 26 % der Führungskräfte Frauen sind. Das macht mich besonders neugierig auf die Geschichten der Frauen, die es geschafft haben, aufzusteigen.

Ich leite den gesamten Prozess von der Ankunft der Fasern bis zum Endprodukt, dem Garn. Ich bilde die Arbeiter*innen aus und bearbeite die eingehenden Aufträge.

Lemlem, Leiterin der Spinnerei in der MNS-Fabrik

Lemlem: Leiterin der Spinnerei

Eine von ihnen ist Lemlem, die einzige weibliche Führungskraft in der beeindruckenden MNS-Fabrik. In den Maschinen ihrer Abteilung werden die Baumwollfasern zu einem robusten Garn verzwirnt. 

Ich bin die Abteilungsleiterin der Spinnerei”, sagt Lemlem. “Ich leite den gesamten Prozess von der Ankunft der Fasern bis zum Endprodukt, dem Garn. Ich bilde die Arbeiter*innen aus und bearbeite die eingehenden Aufträge.”

“Ich glaube, Frauen sind besser für die Textilindustrie geeignet, weil sie mehr Geduld haben”, sagt Lemlem. Offenbar stimmt sie mit dem Fabrikleiter überein, mit dem ich vorhin gesprochen habe. “Ich liebe diese Branche. Als Frau ist es nicht immer einfach, zum Beispiel wegen des Lärms und des Schmutzes. Deswegen bedecken wir zum Beispiel unsere Haare. Manchmal würde ich bei der Arbeit gerne etwas hübscher aussehen, aber das ist nicht immer möglich. Außerdem benötigen wir Frauen mehr Sicherheit und Ruhe.”

Lemlem nimmt an dem Training zum Thema saubere Produktion teil, welches Solidaridad im Rahmen des Projekts Bottom Up anbietet. “Ich habe so viel gelernt”, sagt Lemlem begeistert. Zum Beispiel über das Wassermanagement und den Energieverbrauch in der Fabrik. Sie sagt: “Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir andere Maschinen erhalten. Wir können nämlich immer noch viel verbessern, zum Beispiel die Abfallmenge reduzieren.”

Lemlem leitet die Spinnerei der MNS-Fabrik

Ayisha: Erfahrene Industriedesignerin

Ebenfalls beim Training zum Thema saubere Produktion dabei: Ayisha. Sie ist Expertin für die technischen Prozesse in ihrer Fabrik, wie z.B. die Waschmaschinen oder die Kessel zur Dampferzeugung.

Ich bin neugierig zu erfahren, wie Ayishas Arbeitsalltag aussieht. “Ich beginne um acht Uhr morgens. Zuerst melde ich mich anwesend und ziehe dann meine Arbeitskleidung an. Ich mache einen Rundgang durch die Fabrik, um sicherzustellen, dass alle Systeme funktionieren. Das dauert bis mittags. Nachmittags beschäftige ich mich mit den technischen Problemen in der Fabrik. Ich melde sie und diskutiere mit den Kolleg*innen über Lösungen. Am nächsten Tag kontrolliere ich erneut, ob alles funktioniert.”

Ayisha liebt ihre Arbeit. Sie wurde innerhalb der Fabrik einige Male befördert, um diese Position zu bekommen. “Ich bin froh, dass ich etwas aus meinem Leben machen kann, anstatt arbeitslos herumzusitzen. Ich lerne so viel von den Menschen um mich herum. Ich bin unabhängig und nicht auf meine Familie angewiesen.”

Ayisha fühlt sich von den Männern häufig nicht ernst genommen

Ayisha gibt zu, dass es nicht immer einfach ist. “Vor allem in meiner früheren Abteilung wurde ich häufig nicht ernst genommen. Deshalb habe ich meist gar nicht über meine Pläne gesprochen, sondern habe direkt gehandelt und meinen Kolleg*innen dann erst das Ergebnis gezeigt. So konnten sie mit eigenen Augen sehen, was ich leisten kann. Gerade die älteren Männer mögen es nicht, wenn eine Frau ihnen sagt, was sie tun sollen. Selbst wenn man Ergebnisse erzielt, hören sie nicht zu. Das ist sehr ärgerlich. Aber ich lasse mich davon nicht abhalten.”

Ayisha freut sich: “Meine Familie ist sehr stolz auf mich, gerade weil ich diese Arbeit als Frau mache. Normalerweise müssen Frauen die Hausarbeit machen. Ich helfe zwar im Haushalt, aber meine Familie lässt mir Raum für meine Arbeit. Sie finden es wichtig, dass ich mich weiterentwickle. Ich hoffe, dass noch viel mehr Frauen in solchen Positionen wie ich landen.”

Eine Arbeiterin in der MNS-Fabrik an einer der Maschinen

Bottom-Up-Training für weibliche Führungskräfte

Die Beispiele von Ayisha und Lemlem beweisen: Es ist möglich, als Frau in eine Führungsposition zu gelangen. Doch noch immer existiert eine gläserne Decke, nur wenige Frauen schaffen den Durchbruch. Das Projekt “Bottom Up!” unterstützt die teilnehmenden Fabriken dabei, Frauen gezielt zu fördern. So werden zum Beispiel die Fabrikleiter*innen in Sachen Gender und Frauenrechte geschult. Drei Fabriken haben inzwischen diesbezügliche Richtlinien ausgearbeitet.

An dem Programm “transformatives Führungstraining” nahmen fünfzehn Frauen mit Führungspositionen teil. Sie verbesserten darin ihre Fähigkeiten in den Bereichen persönliche Kommunikation, Teambildung, Coaching und effektive Verhandlungsführung.

Mekdes, Vorgesetzter in der Stickereiabteilung von Etur, ist begeistert: “Ich habe gelernt, dass Führung nicht etwas ist, das einem aufgezwungen wird, sondern dass sie von innen kommen kann. Uns wurde gesagt, dass wir Frauen zu viel mehr fähig sind, als wir manchmal glauben. Auch wir können ein Unternehmen leiten. Es sollten viel mehr Frauen diese Ausbildung absolvieren.”

Arbeiter*innen aus der Fabrik Bishoftu nehmen an einem Training von Solidaridad teil

Über Bottom UP!

Das Projekt wird mit Mitteln der Europäischen Union und einer Kofinanzierung durch das niederländische Außenministerium finanziert.  Am Programm sind 14 äthiopische Baumwollfarmen, Spinnereien und Textilfabriken mit insgesamt 19.200 Arbeiter*innen beteiligt. Nachhaltigkeit steht dabei vom Baumwollfeld bis zum Kleidungsstück an erster Stelle, mit dem Ziel inklusives Wachstum, einen bewussten Umgang mit Ressourcen, verbesserte Arbeitsbedingungen und Umweltstandards in Äthiopien zu erreichen. Darüber hinaus möchte Bottom UP! für mehr Transparenz in Europa 175 EU-Unternehmen aktivieren und 1,2 Millionen Verbraucher*innen in den Niederlanden, Dänemark sowie Deutschland bei verantwortungsbewussten Kaufentscheidungen unterstützen.

Bottom UP! ist ein von der EU finanziertes Projekt, das zu einer nachhaltigen, integrativen und transparenten Wertschöpfungskette beitragen soll – und so die Arbeitsbedingungen vor Ort verbessert sowie die Arbeits- und Umweltstandards in der äthiopischen Baumwoll- und Bekleidungsindustrie fördert.

Projektpartner: Solidaridad Network, MVO Netherland und Ethical Trade Denmark (bisher bekannt als Danish Ethical Trading Initiative (DIEH)).